Ein saugendes Lamm, zwei blutende Wunden und eine unverhoffte Bootsfahrt

Die Felgen meines klapprigen Subaru scheppern gewaltig, als wir in die Straße unseres Zielorts einbiegen. Seit gut fünf Kilometern bewegen wir uns auf einer unbefestigten Straße, auf der entgegenkommende Fahrzeuge so viel Staub aufwirbeln, dass man für die nächsten zehn Sekunden gar nichts mehr sieht. Gott sei Dank kennen die heimischen Vögel und Hasen das Problem und bringen sich rechtzeitig in Sicherheit. Ich bin gemeinsam mit L. auf dem Weg zu seinem Reisepartner V., der bei einer neuseeländischen Familie Kost und Logis erhält und im Gegenzug Wände streicht, Unkraut jätet und die Kinder bespaßt. Der Grund unseres Besuchs: Ein fünf Wochen altes Lamm, das von seiner Mutter verstoßen wurde und seitdem von der Familie mit der Flasche aufgezogen wird.

Ankunft am Zielort. Ein kleines Farmhaus inmitten eines riesigen Grundstücks, an dessen Ende nur noch Felder und weiter hinten die hohen, schneebedeckten Berge Otagos zu sehen sind. Stattliche Bäume stehen am Rand des Gartens, unter einem grast ein wohlgenährtes Pony. L. hat dafür allerdings keinen Blick übrig, denn seine nackten Füße (ganz im Kiwi-Style) haben eines der anwesenden Hühner erstmal zu einem fröhlichen Angriff verleitet. Während er versucht, sich in Sicherheit zu bringen und dem Huhn deutsche Schimpfwörter an den Kopf wirft, vernehme ich aus der Ferne schon ein zartes „Määääh“. V. schaltet die Elektrik aus und wir krabbeln durch den Zaun in den Schafspaddock. Wir werden argwöhnisch von den anderen Schafen begutachtet. Ein Mutterschaf mit zwei wolligen und schon etwas älteren Lämmern und zwei weitere, die ich in meiner Unkenntnis als alt bezeichnen würde, die Wolle hängt doch schon recht löchrig und filzig nach unten. Das zarte Määäh von eben ist durchdringender geworden und wir schlüpfen in das Extragehege, das sich das Lämmchen mit einem stattlichen Hahn und zwei Hennen teilt. Der Niedlichkeitsfaktor eines Lamms, das der Überzeugung ist, dass jeder Mensch Milch mitbringen muss und einen dementsprechend anstubst, ansaugt und beschnuppert, ist kaum zu übertreffen. Ich schmelze dahin, während L. mit seiner nächsten Wunde kämpft: Das Babyschaf hat seine kaum vorhandenen Milchzähne geschickt eingesetzt und jetzt blutet sein Finger. Die Niedlichkeit hat allerdings auch ihn fest im Griff, auf Beschimpfungen verzichtet er dieses Mal.

Als das Lamm feststellt, dass wir kein Essen bringen und uns dementsprechend langweilig findet, verlassen wir die Farm und machen uns auf den Weg in Richtung Lake Hawea. Die Gastfamilie veranstaltet dort ein Barbecue und typisch neuseeländisch sind wir sofort eingeladen. Bei unserer Ankunft sind wir umringt von einem kläffenden, schreienden, anschmiegsamen, lachenden Pulk aus Kindern und Hunden. Wir sind ein bisschen spät dran, deswegen werden uns die restlichen Würstchen ganz einfach in die Hand gedrückt und nur ein paar Momente später stehen wir direkt am Ufer des glasklaren, an diesem Abend völlig glatten Sees. Kaum hat er sein Essen verspeist, wird V. in einem unfreiwilligen Wet-TShirt-Contest verwickelt, während L. seine Handstandkünste teilt und ich für meinen Elefantenpullover bewundert werde. Weder die Kinder, noch die Hunde, noch die Eltern scheinen irgendwelche Berührungsängste zu kennen. Während wir die erste Übernachtungseinladung erhalten, werde ich in das Fischerboot des Sohnes manövriert und gleite mit einem Mal ganz und gar unverhofft im Sonnenuntergang in Richtung Berge. Plötzlich ist es ganz still. Das Ufer ist nicht weit entfernt, trotzdem dringt kein anderes Geräusch zu uns als das Plätschern des Wassers und ab und zu das Platschen eines fetten Fisches, der aus dem Wasser nach Mücken schnappt. Friedlich.

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Ohne die Sonne ist es empfindlich kühl, deswegen wird nach unserer Rückkehr ans Ufer das Boot im Van verstaut und wir fahren alle gemeinsam zurück zum Farmhaus. Die Kinder freuen sich so dermaßen über die Gäste, dass wir eine Vorstellung auf dem Trampolin bekommen und die kleine Tochter ungefähr hundert Räder und FlicFlacs durch den Garten schlägt. Platz genug hat sie dafür allemal. Schließlich wandern wir alle gemeinsam noch einmal zu dem Schafspaddock. Der Sohn trägt auf dem Arm eines der beiden Kaninchen, im Schlepptau haben wir außerdem die zwei Hunde und das angriffslustige Huhn, das L. genauestens im Auge behält. Während ich mich wieder in Schmuseposition begebe, setzt er das Kaninchen ab, das sich sofort auf Erkundungstour durch den Paddock begibt. Das wiederum finden die andere Tiere so lustig, dass sich uns ein herrliches Bild bietet: Im Dämmerlicht der neuseeländischen Frühlingsnacht verfolgen fünf aufgeregte Schafe, zwei Hunde, ein Huhn und ein kleiner Junge im Schlafanzug ein weißes Kaninchen. Ich möchte diesen Moment gerne einfrieren und mir für immer bewahren.

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Andere Sitten, bessere Sitten?

Ich fange mal mit mir selbst an: eine Hostelküche um sieben Uhr Abends, mitten in Neuseeland. Es ist gerammelt voll, Menschen aus allerlei Nationen kochen und schnibbeln so vor sich hin. Auftritt Rainer und Angela, so taufe ich sie hier spaßeshalber. Ebenfalls schon vor Ort ist Angelas kleine Schwester Laura. Die hat soeben Müll weggeworfen und ist schon wieder fast draußen. Angela öffnet die Tonne und schweigt einen Moment entsetzt: „Wer hat den Plastik in den Hausmüll geworfen???“ Laura dreht sich um: „Äh, das war wohl ich.“ Angela guckt derartig fassungslos, das es schon fast witzig ist. Noch während sie sprachlos an der Tonne steht kommt Rainer, allem Anschein nach ihr Ehemann. Er öffnet ebenfalls die Tonne um irgendwas zu entsorgen und zuckt zusammen: „Oh Gott! Wer hat den Plastik in die Tonne für den Hausmüll geworfen?“ Lauras verschämte Antwort höre ich schon nicht mehr, ich verlasse fluchtartig den Raum. Dabei überkommt mich ein vertrautes Gefühl: Scham. Ich schäme mich für meine Landsleute und ihre ach so deutschen Eigenschaften. Lieber schweige ich den restlichen Abend, als mich als Deutsche identifizieren zu lassen.

Aber sollte ich nicht eher stolz sein auf Angela und Rainer, dass sie sich auch so weit weg von zu Hause an ihre deutschen Tugenden erinnern? Nur einen Tag nachdem ich mich an dieses Beispiel erinnert habe, postet eine amerikanische Freundin ein Video,in dem die deutsche Mülltrennung in den Himmel gelobt wird. Die Filmemacher zeigen, wie schlecht die USA dagegen das Problem managt. Das heißt ja im Umkehrschluss, ich schäme mich für etwas, das andere Länder großartig finden.

Warum sind so viele von uns so schnell bereit, die eigenen Sitten als völlig übertrieben und dämlich zu erachten und in anderen Ländern unsere ganze kritische Einstellung über Bord zu werfen und nur noch zu schwärmen?

Gerade beim Reisen begegnet einem das Thema der Identifizierung mit der eigenen Kultur überall. Ich bin großer Fan der argentinischen Lebensart, ein argentinischer Freund wiederum hört nicht auf, auf sein Land zu schimpfen und sich nach Europa zu träumen. Spätestens seit dem Referendum kriegen jüngere Briten schnell einen fast schon angeekelten Gesichtsausdruck, wenn es um ihr eigenes Land geht. Und für viele Deutsche ist es immer noch das größte Kompliment, wenn sie jemand als „überhaupt nicht typisch deutsch“ bezeichnet.

Wenn man in dem Land aufwächst, in dem schon die eigenen Eltern und Großeltern gelebt haben, dann kann man diese Herkunft eigentlich nicht verleugnen. Kulturelle Prägung lässt sich nicht an und ausschalten wie es einem gerade passt. Beispiel: Tanja J. Sie sieht sich in ihrem Herzen eindeutig als Spanierin, will unbedingt nach Barcelona ziehen. Aber: Es ist dort einfach so schmutzig. Und alle kommen ständig zu spät. All diese Eigenschaften und Vorlieben, die wir bei unseren Landleuten oft so unerträglich finden: Sie sind häufiger ganz nah an und in uns, jederzeit bereit, hervorzukommen. Deswegen stoßen wir sie wohl mit solcher Macht von uns.

Und was die bedingungslose Schwärmerei für andere Länder angeht: Ich denke, es dauert sehr lang, bis man einen wirklichen Zugang zu einer anderen Kultur und Nation kriegt. Einen, der eine klare Sicht ermöglicht: auf vergangene Traumata, auf Probleme, auf tiefer liegende Ungerechtigkeiten – kurzum, die Realität.

Die Moral von der Geschichte? Ich fahre jetzt wieder nach Neuseeland. Und ich will dieses Mal die Tendenz unterdrücken, bei jeder passenden Gelegenheit mein Deutschsein möglichst hastig zu verstecken. Es ist wie es ist: Als ich vor zwei Jahren in Sydney mit meinen neu gekauften australischen Klamotten und einem australischen Klatschmagazin unter dem Arm durch die Straßen lief, kamen zwei Jungs auf mich zu und hatten nur eine Frage: „Are you German?“ Also bitte, wozu gebe ich mir dann überhaupt noch Mühe?

Eine Insel, eine Furzkanone und zwei Schnarchnasen

Ausflugsziel: Isle of Skye, Schottland

Teilnehmer: M.K. (AUS), J.B. (USA), B.M. (USA), P.H. (GB), S.B. (GER)

Samstag, 08:00: Wir schälen uns seufzend aus den Kissen, die Nacht war kurz und die Muskeln schmerzen nach traditionellem Gehopse zu schottischen Klängen. Doch die raue Natur ruft und um neun Uhr haben wir das Auto bestellt.

09:00: Wir sind immer noch im Studentenwohnheim, P. scheint die Nacht durchgemacht zu haben und schreibt zwar Nachrichten, erscheint aber einfach nicht.

09:45: P. taucht endlich auf, verschwindet kurz darauf wieder, um sich Taschentücher zu holen. Das ist dann auch ungefähr das einzige Gepäck, das er mitnimmt.

11:00: Nach einer Stunde Wartezeit in der völlig überfüllten Autovermietung haben wir endlich den Schlüssel in der Hand. P. und J. liegen draußen auf dem Bürgersteig und schlafen. Was ist das eigentlich für ein seltsamer Geruch, der hin und wieder an mir vorbei weht?

13:00: Fahren, fahren, fahren. Die anderen haben keinen internationalen Führerschein, also ist die Sitzverteilung recht klar. M. ist für das Entertainment verantwortlich und gibt sich redlich Mühe, während die Herren der Schöpfung hinten was tun? Natürlich schlafen.

14:00: Atmet P. eigentlich noch? J. ist sich da nicht so sicher und plant bereits, wie wir den toten Körper im schottischen Hochmoor möglichst unauffällig versenken können. Es riecht schon wieder so komisch… Muss man als Dichter morbide sein? J. scheint mit seinen Versen recht erfolgreich zu sein, aber dieses ständige Gerede über Tod nervt. Er saß scheinbar noch nie mit jemandem im Auto, der gerne mehr als 100 Stundenkilometer fährt. Ab und zu höre ich ein entsetztes Schnaufen, wenn wir um die Kurven fahren.

17:00: Jetzt schlafen alle. Es regnet und im Radio läuft „The Boxer“ von Simon und Garfunkel. Was für ein lustiger Ausflug!

17:30: Wir beziehen unser Hotel auf dem Festland und beschließen, eine Runde über die Insel zu fahren. P. war kurzzeitig wach, das einzige, was er bisher gesagt hat, war: „Ich habe Heuschnupfen, deswegen bin ich so müde.“ M. und ich sitzen schon im Auto, als die Jungs auf uns zusteuern. Sie betrachtet P. eingehend und sinniert schließlich: „What a funny man. Paul Fucking Henry.“ Ich kriege meinen ersten Lachanfall und J. Panikattacken, während ich glucksend durch riesige Pfützen steuere. Es regnet immer mehr.

18:00: Immer noch im Auto. Ich habe den starken Verdacht, dass B. ein paar Probleme hat, schottisches Essen zu verdauen. Dieser Geruch ist durchdringend, M. öffnet unauffällig ihr Fenster. Die Landschaft ist atemberaubend: massive, grasbewachsende Berge, unzählige kleine und große Wasserfälle und überall Schafe mit Hörnern. Es fühlt sich so an, als ob wir in einer geheimnisvollen Unterwasserwelt gelandet sind.

22:00: Zurück im Hotel. Nach der stundenlangen Schlaferei scheinen die männlichen Teilnehmer dieser Exkursion aufzutauen und beschließen, den Abend mit einem Trinkspiel zu beenden. Ich bin so müde, dass ich nach zwei Drinks weder in der Lage bin, weiter Englisch zu sprechen, noch meine Augen aufzuhalten. Als J. anfängt, einen Monolog über Modernism zu halten, schlafe ich ein.

Sonntag, 10:00: Wir sind seit einer Stunde zum Frühstücken verabredet, bisher sind aber nur B., M. und ich anwesend. Oh Gott, er frühstückt schon wieder Bohnen!

11:00: Ich bin kurz vor einer Gewalttat, als P. und J. sich endlich bequemen, das Zimmer zu verlassen und zum Auto schlendern. Wie schön es doch ist, dass die Amerikaner überhaupt keine andere Sprache sprechen als ihre eigene, meine deutsche Schimpftirade lassen sie gezwungenermaßen über sich ergehen. Heute fahre ich noch ein bisschen schneller, das haben sie verdient.

11:30: B. kennt keine Gnade, es stinkt einfach unglaublich und er ist sich mittlerweile auch nicht mehr zu schade, seine Ausdünstungen zuzugeben. Außer ihm findet das aber irgendwie niemand lustig.

12:30: Wir starten unsere Wanderung am nördlichen Ende der Insel. Karge Felsformationen, wuschelige Hochlandrinder mit riesigen Hörnern und saftige Wiesen prägen die Landschaft, die kleinen weißen Häuser sind die einzigen Farbtupfer im unendlichen Grün. P. leidet mittlerweile, natürlich stumm, unter der Tatsache, dass er keine Regenjacke mithat.

13:30: Sonne und Wolken wechseln sich ab, es regnet immer wieder und unsere Füße sind mittlerweile völlig durchnässt. Schön ist es trotzdem.

17:00: Zurück im Auto. B. und P. haben auf dem Rückweg noch Bekanntschaft mit dem schlüpfrigen schottischen Boden gemacht und sitzen jetzt wie zwei matschige Häufchen Elend auf dem Rücksitz. Ach egal, nach zehn Minuten schlafen sie einfach wieder.

21:30: Ich habe beschlossen, die schottischen Geschwindigkeitsbegrenzungen großzügig auszulegen und wir trudeln nach nur gut vier Stunden wieder in Edinburgh. Die Moral von der Geschichte? Ein Wochenendtrip ist manchmal mehr als genug, um Leute so gut kennenzulernen, dass danach klar ist, mit wem man Zeit verbringen möchte und wem mit lieber nicht. Ohne die grandios lustige M. wäre es ein Horrortrip gewesen. Ein stinkender, wohlgemerkt.

Die Zeit danach. Oder dazwischen?

Das Problem nach einer Reise um die Welt ist: Es ist nicht mehr so wie davor. Ich bin wieder zu Hause und das schon seit zwölf Wochen. Die kaum zu ertragende Sehnsucht nach dem ständig-Neuen, das Vermissen der Reisepartner, die Unlust, nur noch Deutsch zu sprechen – all das ist weniger geworden. Ich habe mich wieder eingewöhnt, ich wohne wieder in derselben Wohnung wie vorher, fahre wieder dasselbe Auto und treffe meine alten Freunde. Alles Dinge, die ich extrem schätze und die ich brauche. Und doch sind diese Handlungen unterlegt mit einem neuen Gefühl. Es ist diffus und ich finde keinen Begriff, der zu hundert Prozent darauf passt. Es ist das Sehnen nach Freiheit, die Suche nach dem puren Ich, der Wunsch nach dem Unbekannten, dem intensiven Gefühl. Mein Geist will nicht akzeptieren, dass diese Art Glück nur temporär gewesen sein soll. Und es lässt mich nicht los, es treibt mich um, lässt mich schlecht schlafen.

Ich sitze in einem Büro und fühle einen übermächtigen Fluchtinstinkt in mir aufsteigen. Einfach weglaufen, alles zurücklassen, um zu finden, was mir fehlt. Ja, es ist irgendwie armselig und vielleicht ein Luxusproblem. Da gehe ich auf Reisen, sehe die Welt und bin mit nichts mehr zufrieden, wenn ich zurück komme? Ich habe mich nie für jemanden gehalten, dem so etwas passiert. Aber das Gefühl ist da und Glück lässt sich nicht einreden. Ich kann klar sehen, wie unfair es jenen vorkommen muss, die hier geblieben sind. Aber auch das ändert nur mein Verhalten und nicht das, was in meinem Herzen vor sich geht.

Es ist, als ob sich im Inneren etwas verschoben hat und ich keine Möglichkeit habe, das wieder rückgängig zu machen. Von dem Risiko hat mir niemand erzählt und ich glaube, das kennt auch keiner, der es nicht erlebt hat. Es gibt Reisen, von denen man nicht mehr ganz zurückkommt.